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Kein Fahrverbot trotz roter Ampel?

Das OLG Frankfurt und sein Pendant in Berlin, das sog. Kammergericht, haben in Januar 2022 in zwei typischen Konstellationen, in denen es immer wieder zu Ampelverstößen kommt, entschieden, ob denn ausnahmsweise kein Fahrverbot verhängt werden muss:

In einem "Mitzieher"-Fall (Frankfurt) und in einem "Rückstau"-Fall (Berlin).

Beide Gerichte haben - wenig überraschend - die Rechtsmittel des jeweiligen Autofahrers zurückgewiesen und damit festgeschrieben, dass an eine solche Ausnahme-vom-Fahrverbot hohe Voraussetzungen zu stellen sind.

Absehen von Regelwirkung aufgrund des sog. "Mitzieheffektes" als atypischer Einzelfall bei Missachtung des Rotlichts einer Lichtzeichenanlage (Frankfurter Fall)

Die Erfüllung des Tatbestands des § 4 Abs. 1 Nr. 3 BKatV, Nr. 132.3 BKat durch Missachtung des Rotlichts einer Lichtzeichenanlage mit Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer indiziert das Vorliegen eines groben Verstoßes i.S.d. § 25 Abs. 1 S. 1 StVG, was regelmäßig die Verhängung eines Fahrverbots erforderlich macht. Ein Ausnahmefall ist lediglich dann anzunehmen, wenn aufgrund der Umstände des Einzelfalls atypischerweise ein Absehen von der Regelwirkung gerechtfertigt ist. Von einem solch atypischen Einzelfall ist dann auszugehen, wenn entweder der Erfolgsunwert erheblich vermindert ist oder nur ein Verstoß von minimalem Handlungsunwert vorliegt. Dies könnte bei Vorliegen des sog. "Mitzieheffektes" der Fall sein, wenn der Betroffene zuerst ordnungsgemäß an der Lichtzeichenanlage anhält und erst anschließend infolge einer auf einem Wahrnehmungsfehler über die Lichtzeichenanlage und einer Unachtsamkeit, trotz fortdauernden Rotlichts in die Kreuzung einfährt, indem er sich durch die vor ihm fahrenden Fahrzeuge in die Kreuzung "hineinziehen" lässt.

Die auf diese Begründung gestützte Beschwerde des Autofahrers wurde mit Beschluss des OLG Frankfurt am Main vom 31.01.2022 zum Az.: 3 Ss OWi 41/22 zurückgewiesen.

Entscheidend sei allein, ob aufgrund der Umstände des Einzelfalles ein Ausnahmefall gegeben sei, der atypischerweise ein Absehen von der Regelwirkung rechtfertige. Dafür sei entweder erforderlich, dass schon keinerlei Gefährdung weiterer Verkehrsteilnehmer bestanden habe, so dass auch eine nur abstrakte Gefährdung völlig ausgeschlossen und der Erfolgsunwert erheblich vermindert sei. Oder es liege ein Verstoß von denkbar geringer Bedeutung und minimalem Handlungsunwert vor. Der Handlungsunwert könne insbesondere durch ein sog. Augenblicksversagen sowie durch den sog. Mitzieheffekt gemindert sein. Weder Erfolgs- noch Handlungsunwert seien aber hier derart gemindert gewesen, dass von einem Ausnahmefall auszugehen sei. Vielmehr sei es zu einer Gefährdung weiterer Verkehrsteilnehmer gekommen. Dies ergebe sich insbesondere vor dem Hintergrund der Uhrzeit (Mittagszeit). Auch der Handlungsunwert sei nicht derart gering, dass ein Ausnahmefall anzunehmen sei. Nach den gerichtlichen Feststellungen war der Betroffene drei Sekunden auf die gelb zeigende und 1,1 Sekunde auf die rot zeigende Lichtzeichenanlage zugefahren. Ein Augenblicksversagen setze hingegen eine nur kurze Unaufmerksamkeit voraus, weshalb der Verstoß dann nicht auf grober Nachlässigkeit, Rücksichtslosigkeit oder Verantwortungslosigkeit beruhe. Bei einer Zeitspanne von 4,1 Sekunden scheide dies aus, da aufgrund der erheblichen Zeitspanne nicht mehr nur von einer kurzen Unaufmerksamkeit ausgegangen werden könne. Besondere Gründe, warum auch bei dieser erheblichen Zeitspanne von einem Augenblicksversagen auszugehen wäre, seien nach den Feststellungen nicht ersichtlich. Zutreffend sei auch nicht von einer Verringerung des Handlungsunwerts aufgrund eines Mitzieheffektes auszugehen.

Absehen von Regelwirkung wegen eines Rückstaus als atypischer Einzelfall bei Missachtung des Rotlichts einer Lichtzeichenanlage (Berliner Fall)

amtlicher Leitsatz des Gerichts:

  1. Geht das Fahren über die Haltlinie bei grünem Licht und das Einfahren in den Kreuzungsbereich nicht nahtlos ineinander über, weil es zwischen beiden Verkehrsvorgängen zu einem verkehrsbedingten Halt (z. B. infolge eines Fahrzeugstaus) vor der Lichtzeichenanlage kommt, so darf der Kraftfahrzeugführer nicht in den geschützten Bereich einfahren, wenn er diesen erst nach Rotlichtbeginn erreicht. Denn für ihn gilt ab dem Zeitpunkt des Umschaltens der Lichtzeichenanlage auf Rot das Haltegebot vor der Kreuzung, auch wenn er zuvor bei Grün die vorgelagerte Haltlinie überfahren hat.
  2. Um dem Einzelfall bei dieser besonderen Verkehrssituation gerecht zu werden, bedarf es, auch unter Berücksichtigung der indiziellen Wirkung des Regelbeispiels des BKatV nach §§ 1 Abs. 1, 4 Abs. 1 Nr. 3 Anlage 1 lfd. Nr. 132.1, der sorgfältigen Prüfung, ob der Kraftfahrzeugführer mit dem Einfahren in den Kreuzungsbereich bei Rotlicht seine Pflichten „grob“ i.S.d. § 25 Abs. 2 Satz 1 StVG verletzt hat.

Hier war der betroffene Autofahrer auf der rechten Spur vor einer innerstädtischen Ampelkreuzung in Berlin, als die Ampel für seine Fahrtrichtung grünes Licht abstrahlte. Aufgrund hohen Verkehrsaufkommens - er war das 3. Fahrzeug - gelang es ihm nur, mit den Vorderrädern über die Haltelinie zu fahren und musste bereits 50 cm danach wegen Rechtsabbiegern vor der noch vier Meter von seinem Fahrzeug entfernten Lichtzeichenanlage halten. Seine Fahrt konnte er erst fortsetzen, als die Ampel rot zeigte. Er scherte nach links aus, um an den ihn an der Weiterfahrt hindernden Fahrzeuge vorbeizufahren, wobei ein Zusammenstoß mit der Straßenbahn in der Mitte der Fahrbahn nur durch deren starkes Abbremsen vermieden werden konnte. Er sei berechtigter Kreuzungsräumer gewesen. Das konnte ihn laut Kammergericht (OLG) Berlin im Beschluss vom 24.01.2022 zum Az. 3 Ws (B) 354/21 nicht vom Fahrverbot bewahren.

Soweit der Betroffene meinte, der Verurteilung wegen eines Rotlichtverstoßes stehe der Umstand, dass er ein berechtigter Kreuzungsräumer, also bei Grün ordnungsgemäß in die Kreuzung eingefahren sei, entgegen, teilt der Senat diese Auffassung nicht. Bereits das Einfahren legt einen Verstoß gegen § 11 Abs. 1 StVO nahe. Danach darf trotz grünem Lichtzeichen bei stockendem Verkehr nicht in die Kreuzung eingefahren werden, wenn auf ihr gewartet werden müsste. Für den Betroffenen war beim Überfahren der Haltelinie erkennbar, dass er die Kreuzung wegen der abbiegenden Fahrzeuge nicht rechtzeitig wird passieren können. Unabhängig davon, missachtete der Betroffene das Haltgebot vor der Kreuzung nach § 37 Abs. 2 Satz 7 StVO und beging einen Rotlichtverstoß. Geht das Fahren über die Haltelinie und das Einfahren in den Kreuzungsbereich nicht nahtlos ineinander über, so darf der Kraftfahrzeugführer, wenn er vor dem durch die Flucht- oder Fahrlinien gebildeten Kreuzungsraum aufgehalten wurde, nach Rotlichtbeginn nicht weiterfahren (BGHSt 45, 134). So liegt der Fall hier. Nach den Urteilsgründen steht fest, dass der Betroffene, der zunächst in einem Abstand von vier Meter hinter Haltelinie vor der Ampel stand, seine Fahrt fortgesetzte, als die Lichtzeichenanlage für ihn rotes Licht abstrahlte, obwohl er gefahrlos in diesem Bereich hätte bis zur nächsten Grünphase hätte warten können. Dies wäre nur anders zu beurteilen, wenn er sich beim Farbwechsel bereits in dem geschützten Bereich befunden hätte, dann hätte er ihn vorsichtig und unter sorgfältiger Beachtung des einsetzenden Gegen- und Querverkehr mit Vorrang verlassen können.



Bickenbach, den 15.03.2022

Mitgeteilt von
RA Stefan Krump
Dingeldein • Rechtsanwälte

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