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Erweiterter Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung bei Wegeunfällen durch die neue Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes

Jeder Arbeitnehmer kennt es: das tägliche Pendeln zwischen der Arbeitsstätte und dem Wohnort. Für manche ist es ein Leichtes, da es sich um eine kurze, verkehrstechnisch unproblematische Strecke handelt. Andere Arbeitnehmer nehmen einen langen Weg auf sich und kommen in den Genuss von Stau, Pannen, Verspätungen oder dem Ausfall der genutzten öffentlichen Verkehrsmittel. Manch ein Arbeitnehmer kann in diese Auflistung auch einen (oder gar mehrere) Verkehrsunfälle einfügen. Dabei stellt sich die Frage, wer versicherungsrechtlich bei solchen Unfällen aufkommt und welche Besonderheiten zu beachten sind.


I. Einordnung in das Sozialversicherungsrecht - gesetzliche Unfallversicherung

Unfälle auf dem Weg zur Arbeitsstätte (oder auf Rückwegen von der Arbeitsstätte) werden als Wegeunfälle nach § 8 Absatz 2 Nr. 1 SGB VII behandelt und damit der gesetzlichen Unfallversicherung zugeordnet. Sie stellen einen Unterfall des Arbeitsunfalles dar.


II. Voraussetzungen für das Vorliegen eines Wegeunfalles

Für das Vorliegen eines Wegeunfalles nach § 8 Absatz 2 Nr. 1 SGB VII muss zunächst die Grundvoraussetzung der versicherten Tätigkeit vorliegen. Dies ist mit dem Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses der Fall.

Ferner darf der zurückgelegte Weg nicht als Betriebsweg einzuordnen sein. Deshalb muss eine Abgrenzung der Wegeunfälle von Betriebswegen vorgenommen werden. Dies geschieht dahingehend, dass die zurückgelegten Wege bei Betriebswegen nicht lediglich der Tätigkeit vorangehen oder anschließend erfolgten.

Zudem muss das Zurücklegen des Weges durch den Versicherten wesentlich davon geprägt sein, sich zum Ort der Tätigkeit zur Ausübung der versicherten Tätigkeit zu begeben oder von ihr zurückzukehren. Dies wird unter dem Begriff der Handlungstendenz zusammengefasst. Versichert ist dabei allein das Sichfortbewegen, wobei die Art der Fortbewegung unerheblich ist.

Nun muss der Versicherte aufgrund des durch die versicherte Tätigkeit zurückgelegten Weges, den gegenständlichen Unfall erleiden. Schließlich muss der Unfall seinerseits kausal für einen Gesundheitsschaden oder den Tod des Versicherten sein.


III. Weitere notwendige Voraussetzung: anderer Wegepunkt

Die bestehende Problematik, die das Bundessozialgericht mit seiner Rechtsprechung zum Wegeunfall zu lösen vermochte, lag in der Beschreibung des Weges. Der Wortlaut des § 8 Absatz 2 Nr. 1 SGB VII legt als Ausgangs- bzw. Endpunkt des Weges lediglich den Ort der Tätigkeit fest. Den anderen Wegepunkt lässt die Vorschrift ausdrücklich offen. Folglich muss der andere Punkt durch Auslegung seitens der Rechtsprechung gefunden werden.

Diesbezüglich legte das Bundessozialgericht als anderen Ausgangs- bzw. Endpunkt des Weges neben der Arbeitsstätte, den häuslichen Bereich des Versicherten fest. Mit diesem Begriff strebt das Bundessozialgericht die Einbeziehung aller Wohnmöglichkeiten (wie Wohnungen, Häuser, Hausboote etc.) an, die die Versicherten als Wohnsitz haben können. Die versicherungsrechtlich relevante Grenze des häuslichen Bereichs, die den Beginn des zurückzulegenden Weges und somit auch den Beginn des Versicherungsschutzes darstellt, legte das Bundessozialgericht schließlich auf alle möglichen Außentüren fest.

Aufgrund des offenen Wortlauts des § 8 Absatz 2 Nr. 1 SGB VII kommt jedoch grundsätzlich neben dem häuslichen Bereich auch ein anderer Ausgangs- und Endpunkt in Betracht. Dafür prägte die Rechtsprechung den Begriff des dritten Ortes.

Für das Vorliegen des dritten Ortes stellte das Bundessozialgericht folgende Voraussetzungen auf: Der betreffende Ort muss der Ausgangspunkt oder das Ziel eines selbstständigen Weges und nicht lediglich Zwischenort auf einem einheitlichen Gesamtweg sein. Dazu muss sich der Versicherte mindestens zwei Stunden an dem betreffenden Ort aufhalten. Liegt ein Aufenthalt unter zwei Stunden vor, ist der betreffende Ort versicherungsrechtlich nicht als dritter Ort, sondern als (u.U. unversicherte) Unterbrechung einzuordnen.

Liegt nun ein dritter Ort vor, hat das Bundessozialgericht weitere, von den bereits genannten Voraussetzungen abweichende, Kriterien für das Vorliegen eines Wegeunfalles aufgestellt. Diesbezüglich ging es vor allem auf die Handlungstendenz ein. Bei Vorliegen eines Weges von bzw. nach einem dritten Ort müsse im Rahmen eines Angemessenheitsvergleichs geprüft werden, ob der zurückgelegte Weg in einem angemessenen Verhältnis zu dem sonst, vom häuslichen Bereich aus zurückgelegten Weg steht. Liegt ein unangemessenes Verhältnis der Wegstrecken vor und wird an dem Ort auch keine dem Betrieb dienende Verrichtung verübt, überwiegt die private Tätigkeit am betreffenden Ort das Interesse zum Ort der Tätigkeit zu gelangen, weshalb die erforderliche Handlungstendenz zu verneinen war. Welches Verhältnis dabei als angemessen galt, wurde durch die Zugrundelegung der Verkehrsanschauung als Maßstab, durch sämtliche Gerichte unterschiedlich sowie fallbezogen gehandhabt.


IV. Rechtsprechungsänderung des Bundessozialgerichtes bzgl. des dritten Ortes

Aufgrund dieser Handhabung entstand nicht die gebotene Rechtsklarheit, sodass das Bundessozialgericht mit seinen Urteilen vom 30.01.2020 seine Rechtsprechung zum Angemessenheitsvergleich abänderte und diesen als Kriterium für die Handlungstendenz ausschloss. Stattdessen ist die objektivierte Handlungstendenz zugrunde zu legen, bei der der Versicherte objektiv beobachtbar, sowie subjektiv gewillt den Ort der Tätigkeit zum Zwecke der Ausübung der versicherten Tätigkeit zu erreichen beabsichtigen muss. An dem Erfordernis der zwei-Stunden-Grenze hält das Bundessozialgericht ausdrücklich fest.

Diese neue Rechtsprechung führte das Bundessozialgericht mit seinem Urteil vom 10.08.2021 noch weiter, indem es dort Versicherungsschutz für einen Unfall als möglich erachtete, bei dem sich die Versicherten auf dem rund 400 km langen Rückweg vom Urlaub direkt zur Arbeitsstätte befanden. Damit bestätigte das Bundessozialgericht seine neue Rechtsprechung und sprach den Versicherten ausdrücklich einen insgesamt noch umfangreicheren Versicherungsschutz zu.


V. Fazit

Durch die Festlegung neuer Kriterien und der Abkehr von dem Angemessenheitsvergleich, besteht nun bezüglich des dritten Ortes die Möglichkeit, deutlich mehr Orte als versicherungsrechtlich relevant einzuordnen, solange sich die Versicherten dort länger als zwei Stunden aufhielten. Damit kann nun jeder Weg zur Arbeitsstätte unter den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gemäß § 8 Absatz 2 Nr. 1 SGB VII fallen, solange der Versicherte objektiv erkennbar sowie subjektiv gewillt die Handlungstendenz aufweist, den Weg zurückzulegen, um den Ort der Tätigkeit zur Aufnahme seiner versicherten Tätigkeit zu erreichen.

Somit erweitert das Bundessozialgericht den Versicherungsschutz der gesetzlichen Unfallversicherung für eine Vielzahl an Strecken und gewährt gleichzeitig den Versicherten mehr Freiraum bei der Wahl des Ortes von dem der Weg zur Arbeit angetreten wird.



Bickenbach, den 02.09.2022

Mitgeteilt von
WissMit Sabrina Jung
Dingeldein • Rechtsanwälte

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