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Erkrankung während des Arbeitstages - volle Vergütung?

Üblicherweise meldet sich ein Arbeitnehmer noch vor Beginn des Arbeitstages krank, sollte er nach dem Aufstehen merken, dass er nicht arbeitsfähig ist. Für diesen Tag erhält er dann vom Arbeitgeber sein volles Gehalt im Wege der Entgeltfortzahlung. Doch was passiert, wenn ein Arbeitnehmer die Arbeit bereits aufgenommen hat, er allerdings im Laufe des Tages merkt, dass sich sein Gesundheitszustand verschlechtert und er deswegen vorzeitig seinen Arbeitstag beendet?


Die Entscheidung des BAG aus 1971

Auch im Falle der vorzeitigen Beendigung des Arbeitstages hat der Arbeitnehmer einen Anspruch auf volle Vergütung gemäß § 611 BGB i.V.m. Arbeitsvertrag. Erst am Folgetag tritt bei fortwährender Erkrankung des Arbeitnehmers der Entgeltfortzahlungsanspruch ein. So urteilte das Bundesarbeitsgericht (BAG) im Jahr 1971. Die Einwendung des Arbeitgebers, der in Vollzeit beschäftigte Arbeitnehmer habe bereits nach drei Stunden Arbeit ausgestochen, sodass er höchstens einen anteiligen Entgeltfortzahlungsanspruch habe, drang vor dem höchsten Arbeitsgericht nicht durch. Nach der Rechtsprechung des BAG erhält der Arbeitnehmer, der im Laufe des Arbeitstages erkrankt, für den angebrochenen Tag insgesamt die volle Vergütung, dieser Tag wird nicht in die Berechnung des Sechswochenzeitraums der Entgeltfortzahlung berücksichtigt. Das BAG begründet seine Rechtsauffassung damit, dass „diese Handhabung ein Gebot der Praktikabilität sei und der seit eh und je bestehenden betrieblichen Praxis entspreche (vgl. BAG, Urteil v. 04.05.1971, 1 AZR 305/70).


Die bestätigenden Urteile aus 2003 und 2018

Die Rechtsprechung des BAG wurde 2003 erneut bestätigt. In diesem Prozess ging es allerdings vorrangig um die Tatsache, dass der Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast trägt für seine arbeitsunfähige Erkrankung. Allein der Umstand, dass der Arbeitnehmer erst am Folgetag den Arzt aufsucht und die Krankmeldung erst ab diesem Tag beginnt, erschüttert allerdings nicht den Urkundenbeweis der ärztlichen Bescheinigung, so das BAG in seinem bestätigenden Urteil v. 26.02.2003 - 5 AZR 112/02 - und stellt damit erneut auf den Leitsatz des Grundsatzurteils aus 1971 ab.


Blick in die Zukunft

Auch untere Instanzen orientieren sich nach wie vor am Grundsatzurteil des BAG aus 1971: So entschied zuletzt das Landesarbeitsgericht (LAG) Köln im Jahr 2018, vgl. LAG, Urteil v. 12.01.2018 - 4 Sa 290/17. Die Begründung der über 50 Jahre alten höchstrichterlichen Rechtsprechung lässt zwar durchaus die Hinterfragung zu, ob in aktuellen Zeiten, in denen die verpflichtende Führung von Arbeitszeitkonten eine anteilige Entgeltfortzahlung durchaus praktikabel durchführbar ist und die bisherige Rechtsprechung dadurch überholt ist. Dies erscheint insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich die BAG-Rechtsprechung nicht am Gesetzeswortlaut orientiert, nicht abwegig. Fakt ist jedoch, dass jedenfalls derzeit die wegen Krankheit entschuldigten Stunden im Zweifel auch im Arbeitszeitkonto weder durch Minusstunden noch durch Gleitzeit ausgeglichen werden können. Ein hiervon abweichendes übliches betriebliches Vorgehen müsste unterläge einer gerichtlichen Überprüfung, die voraussichtlich bis in die höchste Instanz durchgeführt werden müsste.

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Bickenbach, den 04.11.2025

Mitgeteilt von
RAin Änne Dingeldein
Dingeldein • Rechtsanwälte

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