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Ein Erbe kann auch ohne Erbschein zu seinen Pflichten herangezogen werden!

Im Alltag wird von einem Erben zumeist die Vorlage eines Erbscheins abverlangt, bevor er Zugang zu Bankkonten und dergleichen erhält. Dieser Sicherheitsaspekt ist nachvollziehbar, stellt allerdings nicht selten eine erhebliche bürokratische Hürde für den Erben dar, die zu finanziellen Unannehmlichkeiten führen können, zumal hierzulande die Erteilung des Erbscheins bis zu 13 Monate dauern kann.

Umso kontroverserer erscheint vor diesem Hintergrund die Tatsache, dass vor den Gerichten nicht mit selbigen Maß gemessen wird, wenn es um die Beanspruchung des möglichen Erben geht. Denn das durchaus zur Konsequenz führen, dass der Erbe einerseits keinen Zugriff aufs Nachlassvermögen erhält, andererseits aber bereits seine Zahlungsverpflichtungen gegenüber anderen Beteiligten erfüllen muss. Da stellt sich die berechtigte Frage, ob das Recht mit dem Alltag zu vereinen ist. Zur Beantwortung dieser Frage lohnt es sich, den rechtlichen Hintergrund und die Systematik des Rechtwesens näher zu beleuchten.


Erbscheinverfahren versus Erbschaftsprozess

Es kann passieren, dass gegen einen Erbscheinsantrag eines in Betracht kommenden Erben andere Beteiligte Einwände erheben, sodass vor dem Nachlassgericht ein streitiges Erbscheinverfahren geführt werden muss.

Trotzdem ist es nicht ausgeschlossen, dass parallel hierzu vor dem Zivilgericht derjenige, der als Erbe in Betracht kommt, in Anspruch genommen wird - beispielsweise durch einen Pflichtteilsberechtigten, der seinen Pflichtteil ausgezahlt oder einen Vermächtnisnehmer, der sein Vermächtnis erfüllt wissen will.

Wichtig ist: Sollten Sie als Erbe in Betracht kommen, können sich allerdings noch nicht mittels eines Erbscheins legitimieren, stellt dies keinen Hinderungsgrund für die Durchsetzung erbrechtlicher Ansprüche gegen Sie dar. Dies mag zunächst kurios erscheinen, hat aber folgenden rechtlichen Hintergrund:


Die Rechtsprechung und die Gesetzessystematik

Weil es an der Vorgreiflichkeit fehlt, wird der zivilrechtliche Erbschaftsprozess bis zur Entscheidung eines gleichzeitig betriebenen Erbscheinverfahrens nach § 148 ZPO nicht ausgesetzt. Denn weder die Zusammenhänge zwischen beiden Verfahren noch die Richtigkeitsvermutung des Erbscheins nach § 2365 BGB begründen vorgenannte Vorgreiflichkeit, so entschied erst jüngst das OLG Rostock mit Beschluss vom 30.03.2023 (AZ: 3 W 30/23).

Der Bundesgerichtshof argumentierte 2020 im Einklang mit dem Bundesverfassungsgericht qua prozessualer Gesetzessystematik: Die Erbenstellung der Beteiligten wird im Erbscheinverfahren nicht materiell rechtskräftig festgestellt und entfaltet daher für den Zivilprozess keine Bindungswirkung. Will heißen: Sollte das Nachlassgericht fälschlicherweise einen Beteiligten als Erben benennen, muss das Korrektiv ohnehin durch die Zivilgerichtsbarkeit vorgenommen werden.


Die kuriose Konsequenz und Abwendungsmöglichkeiten

Das hat zur Konsequenz, dass ein in Betracht kommender Erbe in dieser Position bereits vor dem Landgericht verklagt werden kann, obwohl parallel andere Beteiligte seine Erbenstellung vor dem Amtsgericht bestreiten. Jedenfalls kann er die sogenannte Passivlegitimation nicht alleinig mit dem Verweis auf dieses parallel anhängige Nachlassverfahren substantiiert im Sinne des § 138 Abs. 3 ZPO bestreiten.

Dies ergibt schlussendlich dann Sinn, wenn der in Betracht kommende Erbe einen Erbscheinsantrag dahingehend, dass er als Erbe benannt werden soll, unter Eides Statt gestellt hat. Denn dann geht er selbst davon aus, als Erbe legitimiert zu sein und kann nicht parallel Forderungen von sich abwenden.

Umgekehrt wird ein substantiiertes Bestreiten des vermeintlichen Erben in seiner Position als Beklagter jedoch ausnahmsweise dann durchdringen, wenn er gerade nicht davon ausgeht, Erbe zu sein und dies auch parallel im Erbscheinverfahren bestreitet.


Fazit

Der Erbe hat nicht nur Rechte, sondern auch Verpflichtungen. Diese sind nicht zu unterschätzen: Die gängige Rechtsprechung stellt hier an den Erben sehr hohe Anforderungen, die in der Praxis häufig nicht erfüllt werden können, hat sich der Erbe auf die Erbschaft nicht bereits mindestens ein Jahrzehnt im Vorhinein mit juristischer Unterstützung vorbereitet.

Das hat weitreichende Konsequenzen: Der Erbe haftet nicht nur mit dem Nachlass-, sondern mit seinem gesamten Privatvermögen. Die missliche Lage, die durch ein sich ziehendes streitiges Erbscheinverfahren oder die mangelnde Mitwirkung von Miterben herbeigeführt werden kann, führt zunächst zu deftigen Zwangsgeldern und kann mitunter ein Insolvenzverfahren mit sich bringen.



Bickenbach, den 28.08.2025

Mitgeteilt von
RAin Änne Dingeldein
Dingeldein • Rechtsanwälte

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