ARTIKEL

Völkerrecht – nicht so ohnmächtig wie es scheint

Im Leben gibt es immer Regeln. Das Leben verlangt aber auch Regeln – ein Zusammenleben ohne Regeln oder Grundsätze, wenn jeder so handeln kann wie er es möchte, ohne Konsequenzen zu befürchten, ist kaum vorstellbar. Hier tut sich ein Gedanke auf: Was im Kleinen nicht funktionieren kann, kann auch im Großen nicht funktionieren. Deshalb verlangt die Staatenwelt, auch Völkergemeinschaft genannt, ebenfalls nach verbindlichen Regeln, die die zwischenstaatlichen Beziehungen bestimmen. Dazu zählen die jahrhundertelang ungeschriebenen oder in Verträgen festgehaltenen Regeln bezüglich Staatsgebiete, Gebietserwerb, Gesandtschaftswesen und Meeresnutzung. Diese Regeln bilden Grenzen für die einzelnen Staatsmächte und fungieren als Indikator für Unrecht, sofern eine Verletzung dieser Regeln aus Nachlässigkeit oder politischer Opportunität vorliegt. Dieses Unrecht bei Regelverletzung wurde durch das Verbot des Angriffskrieges nach dem ersten Weltkrieg und durch das umfassende Gewaltverbot der Charta der vereinten Nationen konkretisiert. Darüber hinaus bestehen weitere Grundwerte der modernen Völkerrechtsordnung. Dazu zählen:

  • Die souveräne Gleichheit der Staaten
  • Der staatliche Anspruch auf territoriale Unversehrtheit
  • Das staatliche Selbsterhaltungsrecht, inklusive des Lebensschutzes der Bevölkerung Grundlegende Menschenrechte
  • Das Selbstbestimmungsrecht der Völker
  • Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen

*Aufzählung nach Herdegen, Völkerrecht, 20. Auflage 2021, § 5 Rn. 13 

Zudem werden die Zusammenarbeit und Konfliktbeilegung in immer größerem Maße durch die Schaffung internationaler Organisationen bestimmt. Darunter fallen die Vereinten Nationen, die NATO oder die Welthandelsorganisation, welche jeweils Träger eigener Rechte und Pflichten sind und verbindliche Regelungen für ihre Mitglieder erlassen oder Verträge abschließen können.


A. Vereinte Nationen (Ziele und Grundsätze)

Die Vereinten Nationen sind die größte internationale Organisation. Gegründet wurden die Vereinten Nationen 1945 als „Weltfriedensorganisation“, wobei sie in ihrer Funktion die Nachfolger des Völkerbundes sind. Sie haben ihren Sitz in New York und bestehen aus 193 Mitgliedern. Das wichtigste Ziel der Vereinten Nationen ist die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit.


I. Generalversammlung

Die Generalversammlung ist als Mitgliedervertretung hauptsächlich für die Wahrung des Weltfriedens verantwortlich. Dazu kann sie Handlungsempfehlungen aussprechen.


II. Sicherheitsrat

Hauptverantwortlich für den Weltfrieden ist jedoch der Sicherheitsrat. Dabei kann der Sicherheitsrat zur Wahrung des Weltfriedens bindende Beschlüsse fassen. Zudem kann er auch im Vorfeld auf Parteien eingehen, wenn Situationen das Potential eines Streites erkennen lassen. Scheitern solche Vermittlungsversuche des Sicherheitsrates kann er auch Zwangsmaßnahmen gegen die betreffenden Staaten treffen. Folglich kann der Sicherheitsrat Beschlüsse zu friedenserhaltenden und friedensschaffenden Maßnahmen treffen. Der Unterschied liegt darin, dass bei friedenserhaltenden Maßnahmen die Zustimmung des betroffenen Staates erforderlich ist.

Nun stellt sich die Frage, wie das „Unrecht“ im Völkerrecht sanktioniert bzw. geahndet werden kann.  


B. Streitbeilegung im Völkerrecht

Die Streitbeilegung basiert im Völkerrecht auf zwei verschiedenen Möglichkeiten. Einerseits kann die Streitbeilegung durch internationale Gerichte oder durch Schiedsgerichte erfolgen. Andererseits besteht die Möglichkeit auf außergerichtliche, diplomatische Streitbeilegungsmechanismen zurückzugreifen. Dabei ist zu beachten, dass die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen sich zu einer Streitbeilegung mit friedlichen Mitteln verpflichtet haben. Die Streitbeilegung mit friedlichen Mitteln gilt grundsätzlich nach dem Völkergewohnheitsrecht auch für Nichtmitgliedstaaten der Vereinten Nationen. Diese können jedoch auch zu den später erläuterten Maßnahmen zur Durchsetzung des Völkerrechts greifen, da eine verbindliche Verpflichtung zur Teilnahme an einem gerichtlichen oder Schiedsverfahren für sie nicht existiert.


I. Internationale Gerichte

Zu den internationalen Gerichten zählen alle durch völkerrechtliche Verträge errichteten Gerichte. Jene haben alle eine eigene Geschäfts- und Verfahrensordnung, welche das nähere Verfahren vor dem Gericht bestimmen. Zudem bestehen die Spruchkörper als dauerhafte Institution auch dann, wenn kein Verfahren vor ihnen anhängig ist. Der berühmteste ist der Internationale Gerichtshof in Den Haag (Niederlande).


1. Internationaler Gerichtshof

Der Internationale Gerichtshof (IGH) urteilt über völkerrechtliche Fragen. Darunter fallen die aus den völkerrechtlichen Rechtsquellen resultierenden Rechtssätze. Die Urteile des IGH haben einen ausschließlichen Geltungsbereich zwischen den streitenden Parteien. Die Parteien können Mitglieder der Vereinten Nationen aber auch Nichtmitglieder der Vereinten Nationen sein. Nach Art. 93 der Satzung der Vereinten Nationen sind die Mitglieder der Vereinten Nationen automatisch Vertragspartner des IGH. Bei Nichtmitgliedern kann eine Vertragspartnerschaft begründet werden, wenn bestimmte Voraussetzungen nach Art. 93 Absatz 2 der Satzung der Vereinten Nationen vorliegen.


2. Internationaler Strafgerichtshof

Der Internationale Strafgerichtshof wurde 1998 mit Unterzeichnung des „Römischen Statut“ ins Leben gerufen. Inzwischen ratifizierten 124 Länder das Statut [*Ratifizierungen Stand 11.07.2016 nach Wikipedia; Unterzeichnungen 139 nach Wikipedia]. Seinen Sitz hat der ICC (International Criminal Court) ebenfalls in Den Haag (Niederlande). Zuständig ist der ICC für folgende Verbrechen:

  • Verbrechen des Völkermordes
  • Verbrechen gegen die Menschlichkeit
  • Kriegsverbrechen
  • Verbrechen der Aggression

*Aufzählung nach Stefan Lorenzmeier, „Völkerrecht – Schnell erfasst“, 2016, S. 212 f.


II. Schiedsgerichte

Die Schiedsgerichte führen ein Schiedsgerichtsverfahren durch. Jenes ist ein Streitbeilegungsverfahren, das eine für die Parteien des Schiedsgerichtsverfahrens verbindliche Entscheidung hervorbringt. Im Unterschied zu den internationalen Gerichten bestehen Schiedsgerichte in der Regel nicht dauerhaft, sondern werden für jeden Streitfall gesondert bei Bedarf gebildet. Die Bildung der Schiedsgerichte wird durch den Abschluss eines Vertrages, dem sogenannten „compromis“, zwischen den streitenden Parteien herbeigeführt. Zudem enthält der „compromis“ Regelungen zur Besetzung der Schiedsgerichte mit Schiedsrichtern sowie der dem Urteil zugrunde gelegten Rechtordnung und dem Prozessrecht.


III. Diplomatische Dienste

Zu den außergerichtlichen, diplomatischen Streitbeilegungsmechanismen gehören die diplomatischen Dienste. Diese bestehen aus den „guten Diensten“ und der Vermittlung.


1. Gute Dienste

Die guten Dienste beschreiben die Bemühungen eines Völkerrechtssubjekts, den Streit zwischen zwei anderen Völkerrechtssubjekten einer friedlichen Lösung zuzuführen. Dies kann zum Beispiel dahingehend geschehen, dass das bezüglich des in Frage stehenden Streits neutrale Land A den streitenden Ländern B und C ein Gespräch zur friedlichen Lösungsfindung auf dem Hoheitsgebiet des Landes A anbietet.


2. Vermittlung

Bei einer Vermittlung, als Unterfall der „guten Dienste“, versucht Land A nun, den streitenden Ländern B und C konkrete Lösungsvorschläge zu unterbreiten. 


C. Maßnahmen zur Durchsetzung des Völkerrechts

Die Maßnahmen zur Streitbeilegung sind eine Art, um das „Unrecht“ im Völkerrecht zu beseitigen. Doch was ist, wenn die streitenden Parteien sich den Streitbeilegungsmechanismen entzieht oder ein Verfahren zu lange dauert? In diesem Fall bestehen weitere Maßnahmen zur Durchsetzung des Völkerrechts. Diese sind die Retorsion, die Repressalie und die Gewaltanwendung.


I. Retorsion

Bei einer Retorsion wird ein völkerrechtsgemäßes Verhalten eingesetzt, um berechtigten Ansprüchen zur Geltung zu verhelfen. Dazu zählt beispielsweise der Abbruch von Wirtschafts- oder diplomatischen Beziehungen.


II. Repressalie

Der Einsatz einer völkerrechtswidrigen Maßnahme gegen ein völkerrechtswidriges Verhalten ist eine Repressalie. Diese ist jedoch nur mit Einschränkungen zulässig: Zunächst ist eine Warnung erforderlich, um eine anderweitige Abhilfe durch den sich völkerrechtswidrig verhaltenden Staat zu ermöglichen.

Des Weiteren muss die Maßnahme verhältnismäßig sein. Mithin muss sie eingestellt werden, wenn ihr Zweck erreicht ist. Darüber hinaus darf die Maßnahme keine Gewalt oder Menschenrechtsbeeinträchtigungen enthalten. Zuletzt dürfen durch die Repressalie Unbeteiligte nicht beeinträchtigt werden.


III. Gewaltanwendung

Die Gewaltanwendung ist das schwerste Mittel zur Durchsetzung des Völkerrechts. Dabei darf einem bewaffneten, Gewaltanwendung beinhaltenden Angriff mit Gewalt reagiert werden. Dies steht dem angegriffenen Staat im Rahmen der Notwehr zu. Daneben besteht auch die Möglichkeit der Nothilfe. Bei dieser wird der angegriffene Staat durch andere Staaten unterstützt. Nothilfe kann auch durch mehrere Staaten gemeinsam geleistet werden. Dies gilt jedoch nur so lange, wie die Notwehrlage des angegriffenen Staates andauert.


D.  Fazit

Festzuhalten ist, dass das Völkerrecht in seinen Maßnahmen nicht so ohnmächtig ist, wie man annehmen kann. Die Vereinten Nationen sind eine große Institution mit weitreichenden Mitteln, die sowohl gerichtlich als auch diplomatisch durchgesetzt werden können. Dabei steht ihnen die gerichtlichen Mittel des IGH, des ICC und der Schiedsgerichtsbarkeit zur Verfügung. Darüber hinaus bestehen die Handlungsoptionen der „guten Dienste“, Vermittlung, Retorsion, Repressalie und Gewaltanwendung. Bei all diesen Handlungsoptionen steht das Ziel der Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit stets im Vordergrund. Damit steht dem Völkerrecht ein umfangreiches Repertoire zur Verfügung, welches bedarfsgerecht eingesetzt werden kann und wird.



Bickenbach, den 21.04.2022

Mitgeteilt von
Praktikantin Sabrina Jung
Dingeldein • Rechtsanwälte

Alle Beiträge sind nach bestem Wissen zusammengestellt. Eine Haftung für deren Inhalt kann jedoch nicht übernommen werden.