URTEILE & KOMMENTARE
Pflicht des Arbeitgebers zur Arbeitszeiterfassung


Arbeitgeber in der Pflicht einer systematischen Arbeitszeiterfassung?


Europäischer Gerichtshof (EuGH),
Urteil vom 14.05.2019, (C-55/18)

Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 14.05.2019 (C-55/18) hat einen erheblichen medialen Aufruf ausgelöst. Der EuGH kommt durch Auslegung der Arbeitszeitrichtlinie in seinem Urteil zu dem Ergebnis, dass jeder Arbeitgeber die Arbeitszeit seiner Beschäftigten zu erfassen hat. Denn ohne die Erfassung der Arbeitszeit durch ein objektives, verlässliches und zugängliches System sei es für einen Arbeitnehmer praktisch unmöglich, seine Rechte im Hinblick auf die Höchstarbeitszeitgrenze durchzusetzen.

Rechtsgrundlage hierfür ist eine auf Art. 3, 5 und 6 der EU Arbeitszeitrichtlinie (2003/88/EG) gestützte Auslegung von Art 31 II GRCh, wonach die wöchentliche Höchstarbeitsdauer 48 Stunden nicht überschreiten darf und der Arbeitnehmer pro 24-Stunden-Zeitraum eine Mindestruhezeit von 11 Stunden zu gewähren ist.

Die Entscheidung des EuGH fand ihren Ursprung in Spanien. Hierbei verlangte ein Arbeitnehmer von seinem Arbeitgeber, dass dieser verpflichtet werden sollte ein System zur systematischen Erfassung seiner Arbeitszeit einzuführen. Laut nationalem Gesetz war der Arbeitgeber jedoch lediglich verpflichtet die Überstunden zu dokumentieren und nicht die täglich zu verrichtende Arbeit.

Der EuGH stellt in seiner Entscheidung auch Anforderungen an die Arbeitszeiterfassungssysteme. Konkret wird verlangt, dass ein solches System objektiv und verlässlich bezüglich der Arbeitszeiterfassung sein muss.

Es gibt allerdings Schnittstellen, bei denen Objektivität ihre Grenzen erreicht. Zu denken ist hierbei beispielsweise an die Zeit, die ein Arbeitnehmer in Homeoffice-Arbeit oder als Vertrauensarbeitszeit verrichtet. Eine Überprüfung von Homeoffice-Arbeit kann zwar, solange die Arbeit "online" erfolgt noch durch "ein- und ausloggen" erfolgen und könnte auch für den Arbeitgeber noch transparent sein. Sobald es jedoch um Tätigkeiten geht, die "offline" erfolgen, wird es schwieriger, die Arbeitszeit zu erfassen.

Auch für Arbeitnehmer, die mobil oder ohne festen Arbeitsplatz arbeiten, muss es eine Erfassungsmöglichkeit geben. Hierbei könnten Selbstaufzeichnungen des Arbeitnehmers durch Apps auf dem Smartphone oder andere IT-Programme Optionen darstellen. Interessant könnte für einige Unternehmen auch noch der Kostenfaktor werden, da für ein solches Erfassungssystem die Kostenfrage für den EuGH unbeachtlich ist - Kosten dürften der Objektivität und Verlässlichkeit nicht entgegenstehen.

Bei dem EuGH-Urteil gilt es jedoch zu beachten, dass den Mitgliedsstaaten die konkreten Modalitäten der Umsetzung überlassen wird. So können diese die Besonderheiten einzelner Tätigkeitsbereiche berücksichtigen oder auch die Einzelart der Unternehmen. Auch ab welcher Unternehmensgröße eine solche Zeiterfassung zu erfolgen hat, bleibt den Mitgliedsstaaten selbst überlassen. Dies begründet sich vor allem in dem Hohen administrativen Mehraufwand für kleine Unternehmen.

Zwar gibt es zur Arbeitszeiterfassung noch keine deutsche Rechtsprechung, jedoch wird sich das Bundesarbeitsgericht (BAG) der europäischen Rechtsprechung vermutlich schon bald anschließen. Gänzlich neu ist die Arbeitserfassung aber auch im deutschen Recht nicht. Es gibt bereits Regelungen hierzu, beispielsweise im § 21a Abs. VII ArbZG oder durch die Entscheidung des BAG zum Auskunftsanspruch des Betriebsrats bei "Vertrauensarbeitszeit" (Beschluss v. 16.04.2003 - 7 ABR 53/02). Tatsächlich findet sich sogar auch im deutschen Recht eine der spanischen sehr ähnliche Norm in § 16 Abs. II S. 1 ArbZG. Hierin wird der Arbeitnehmer verpflichtet, die über die werkvertraglich vereinbarte hinausgehende Arbeitszeit zu dokumentieren.

Die Erfassung der Arbeitszeit wirft jedoch die Frage auf, was alles unter die Arbeitszeit fällt und wann der Arbeitnehmer seine Pausen ein-/auszutragen hat. Abstrakt kann man sagen, dass in jeder Tätigkeit, in der der Arbeitnehmer keine Leistung erbringt, der Lohnanspruch entfällt und deshalb nicht unter eine Arbeitszeiterfassung zu fallen hat. Beispielsweise erbringt der Arbeitnehmer während einer Raucherpause keine Arbeitsleistung, wodurch auch kein Lohnanspruch entsteht. Auch eine Rufbereitschaft fällt, anders als der Bereitschaftsdienst, demnach nicht unter die zu erfassende Arbeitszeit. Selbiges gilt bei einer Mittagspause, diese fällt nicht unter die Arbeitszeiterfassung, da der Arbeitnehmer in dieser Zeit nichts Produktives für das Unternehmen macht. Anders stellt sich der Sachverhalt bei Toilettenpausen dar. Eine Toilettenpause ist ein natürliches Bedürfnis und muss daher von jedem Arbeitgeber geduldet und auch bezahlt werden. Auch kurze Ruhe- oder Kaffeepausen von bis zu fünf Minuten gehören streng genommen nicht zur Arbeitszeit, werden in der Praxis jedoch häufig geduldet und als "Arbeitsbummelei" abgetan. Ist dies dem Arbeitgeber jedoch ein Dorn im Auge, empfiehlt es sich, dies genauestens vertraglich zu regeln.

Eine geregelte Zeiterfassung dürfte aber vor allem den Arbeitnehmern zugutekommen. Grade bei unbezahlten Überstunden würde es in der Praxis zu Veränderungen kommen.

Bisher vertrat das BAG ein Stufenmodell zur Darlegung der Überstunden. In diesem Stufenmodell ist auf der ersten Stufe der Umfang der geleisteten Überstunden darzulegen und ggf. zu beweisen. Auf der zweiten Stufe kommt der Nachweis der Veranlassung des Arbeitgebers hierzu. Scheiterten Klagen bislang wegen unbezahlter Überstunden in der Regel aufgrund der schwierigen Beweislast, wird es mit den geforderten Aufzeichnungen deutlich einfacher, die erste Stufe zu beweisen. Demnach wird es auf Arbeitgeberseite nur noch sehr schwer zu bestreiten sein, dass Arbeitnehmer erhöhte Arbeitszeit geleistet haben.

Auch auf der zweiten Stufe werden sich Änderungen ergeben. Hier konnten Überstunden nur zugerechnet werden, wenn sie zuvor vom Arbeitgeber angeordnet, gebilligt oder geduldet wurden. Besonders das Dulden führte in der Praxis zu großen Problemen der Beweislast auf Arbeitnehmerseite. Das BAG stellte hierbei bislang auf die Kenntnis des Arbeitgebers ab, und lehnte diese sogar ab, wenn Arbeitgeber selbst angefertigte Aufschriebe der Anwesenheitszeiten erhalten hatten. Da der Arbeitgeber durch diese Rechtsprechung zur Erfassung und Überwachung der Arbeitszeit verpflichtet wird, muss nun von einer Kenntnis ausgegangen werden. Dies würde zu einer vereinfachten Darlegungs- und Beweislast für den Arbeitnehmer führen.

Nachteilig dürfte für den Arbeitnehmer sein, dass es sich so durch den Arbeitgeber künftig leichter rechtfertigen lässt, diesen mittels eines Zeiterfassungssystems zu überwachen. Eine Überwachung, die über die bekannte "Stechuhr" hinausgeht, dürfte aber wegen der strengen Datenschutzgrundverordnung nicht zu befürchten sein.

Mitgeteilt von
Felix Hartmann, Rechtsreferendar
Dingeldein • Rechtsanwälte

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