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Unwissentlich schwanger - was bedeutet das für den Kündigungsschutz nach § 17 MuSchG?


Ausgangslage

Einer Arbeitnehmerin wird aufgrund einer Verfehlung innerhalb der Probezeit fristlos außerordentlich durch ihren Arbeitgeber gekündigt. Sie ließ als Lkw-Fahrerin einen Lkw auf dem Betriebsgelände nicht ordnungsgemäß stehen, da sie Schmerzen in ihrem Bauch verspürte. Was beide zu diesem Zeitpunkt nicht wissen: Die Arbeitnehmerin ist bereits im neunten Monat schwanger und steht kurz vor der Entbindung, welche bereits am nächsten Tag stattfand. Erst nach etwas mehr als zwei Wochen teilt sie ihrem Arbeitgeber mit, dass sie zum Zeitpunkt der Kündigung schwanger war.

Dies ist sicher nicht der Regelfall, sondern in dieser speziellen Konstellation doch ein extremer Einzelfall. Jedoch hatte es das Bundesarbeitsgericht (BAG) schon mehr als einmal mit einem Sachverhalt zu tun, bei welchem eine Frau erst spät nach der Kündigung ihre Schwangerschaft anzeigt. In solchen Konstellationen stellen sich schließlich besondere Fragen hinsichtlich des Kündigungsschutzes im Rahmen des Mutterschutzgesetzes (MuSchG).


Gesetzeslage

Gemäß § 17 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 MuSchG ist die Kündigung gegenüber einer Frau während ihrer Schwangerschaft unzulässig, wenn dem Arbeitgeber zum Zeitpunkt der Kündigung die Schwangerschaft bekannt ist oder wenn sie ihm innerhalb von zwei Wochen nach Zugang der Kündigung mitgeteilt wird. Satz 2 statuiert jedoch, dass das Überschreiten dieser Zwei-Wochen-Frist dann unschädlich ist, wenn die Überschreitung auf einem von der Frau nicht zu vertretenden Grund beruht. Die Frage ist nun, ob die Kenntniserlangung von der eigenen Schwangerschaft nach Kündigung und erst nach Verstreichen der Zwei-Wochen-Frist einen solchen nicht zu vertretenden Grund darstellt.


Rechtliche Würdigung

Eine schuldhafte Fristversäumung liegt nach der Rechtsprechung des BAG dann vor, wenn sie auf einem "gröblichen Verstoß gegen das von einem verständigen Menschen im eigenen Interesse billigerweise zu erwartende Verhalten" (BAG, Urteil v. 06.10.1983 - 2 AZR 368/82) beruht. Ein Verschulden liege immer dann vor, wenn keine Mitteilung an den Arbeitgeber erfolgt trotz sicherer Kenntnis von der Schwangerschaft, aber auch, wenn zwar keine positive Kenntnis besteht, jedoch "zwingende Anhaltspunkte gegeben sind, die das Vorliegen einer Schwangerschaft praktisch unabweisbar erscheinen lassen. Das Untätigsein der Arbeitnehmerin beim Vorliegen einer bloßen, mehr oder weniger vagen Schwangerschaftsvermutung reicht dagegen nicht aus, ihr ein schuldhaftes Verhalten […] vorzuwerfen" (BAG, Urteil v. 24.11.2022 - 2 AZR 11/22).

Was nun bereits zwingende Anhaltspunkte sind oder noch vage Vermutungen dürfte einzelfallabhängig sein. Zum Teil wird vertreten, dass zwingende Anhaltspunkte bereits dann bestehen, wenn zwei Regelblutungen ausgeblieben sind. Dabei wird jedoch außer Acht gelassen, dass viele Frauen auch unregelmäßig ihre Blutungen bekommen. Frauen über 40 könnten davon ausgehen, dass bereits die Wechseljahre bereits eingesetzt haben.

Wie ist es aber zu beurteilen, wenn eine Frau erst bei der Geburt erfährt, dass sie schwanger ist bzw. war? Schließlich liegt der Gedanke nahe, dass so etwas doch wohl nicht sein kann. Jedoch kommt dieses Phänomen häufiger vor, als man erwarten mag. Hierzu führte der Gynäkologe Jens Wessel eine Studie durch und veröffentlichte diese im Jahre 2003. Das Ergebnis: bei einer von 2.500 Geburten wissen die Schwangeren bis zur Geburt nichts von ihrer Schwangerschaft. Bei 778.100 Geburten im Jahr 2019 kann man also davon ausgehen, dass 300 Frauen nichts von ihrer Schwangerschaft wussten. Dies kann unterschiedliche Gründe haben. So kann es während einer Schwangerschaft zu Zwischenblutungen kommen, die als Regelblutung missinterpretiert werden könnten. Manche gehen davon aus, sie könnten gar nicht schwanger sein, da sie schließlich verhütet haben. Wieder andere schreiben ihre Gewichtszunahme übermäßigem Essen zu.

Darüber hinaus gibt es auch noch das psychologische Phänomen der verleugneten Schwangerschaft. So bemerken manche Frauen Schwangerschaftssymptome und wissen eigentlich, dass sie schwanger sind. Jedoch wird die Schwangerschaft verdrängt aufgrund psychischer Probleme oder anderer belastender Umstände. Hier bereits ein schuldhaftes Verhalten zu bejahen, würde wohl dem Schutzzweck der Norm zuwiderlaufen.

Um nun wieder auf die Frage der Ausgangslage zurückzukehren, ob die Kenntniserlangung von der eigenen Schwangerschaft erst nach Kündigung und erst nach Verstreichen der Zwei-Wochen-Frist einen nicht zu vertretenden Grund darstellt, lässt sich das - wie dargelegt - pauschal nicht beantworten. Fest steht allerdings, dass dies durchaus häufiger vorkommt als man vermuten mag. Wie nun im Einzelfall zu entscheiden ist und der Umstand zu beweisen ist, bleibt dabei Sache des jeweils erkennenden Gerichts.


Europäische Richtlinie

Zu beachten ist allerdings, dass das Tatbestandsmerkmal des nicht zu vertretenden Grundes weit auszulegen ist. Denn sehe man das anders, dürfte das ohnehin gegen die Mutterschutz-Richtlinie der Europäischen Union (RL 92/85/EWG) verstoßen. In Artikel 10 der Richtlinie heißt es wörtlich "Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um die Kündigung der Arbeitnehmerinnen […] während der Zeit vom Beginn der Schwangerschaft bis zum Ende des Mutterschaftsurlaubs […] zu verbieten[.]" In den Erwägungsgründen der Richtlinie steht hierzu geschrieben, dass sich "[d]ie Gefahr, aus Gründen entlassen zu werden, die mit ihrem Zustand in Verbindung stehen, […] schädlich auf die physische und psychische Verfassung von schwangeren Arbeitnehmerinnen […] auswirken [kann]; daher ist es erforderlich, ihre Kündigung zu verbieten."

Die Richtlinie stellt also eindeutig klar, dass schwangere Arbeitnehmerinnen aus Gründen, die im Zusammenhang mit ihrer Schwangerschaft stehen, nicht entlassen werden dürfen. Dies setzt denklogisch Kenntnis des Arbeitgebers voraus. Dieser kann aber keine Kenntnis haben, wenn bereits die Schwangere selbst nichts von ihrer Schwangerschaft weiß. Deshalb gibt es jene Zwei-Wochen-Frist und bei unverschuldetem Versäumen die Obliegenheit zur unverzüglichen Anzeige. Um der europäischen Richtlinie jedoch zur optimalen Wirkungskraft (sog. "effet utile") zu verhelfen, darf von einem verschuldeten Versäumen nicht zu schnell ausgegangen werden, sondern daran sind hohe Hürden zu stellen. Aussortiert sollen quasi nur solche Sachverhalte werden, in denen Arbeitnehmerinnen treuwidrig ihrem Arbeitgeber ihre Schwangerschaft verheimlichen und erst dann die Schwangerschaft anzeigen, wenn der Arbeitgeber eigentlich schon darauf vertrauen durfte, dass seine Kündigung jedenfalls nicht aufgrund des MuSchG unwirksam sein könnte. Es läuft im Ergebnis also auf eine Abwägung zwischen dem Vertrauensschutz des Arbeitgebers mit dem Kündigungsschutz der Arbeitnehmerin hinaus. Letzterem dürfte im Regelfall aufgrund vorstehender Erwägungen der Vorzug zu gewähren sein.



Bickenbach, den 09.05.2025

Mitgeteilt von
Rechtsreferendar Sven Bickel
Dingeldein • Rechtsanwälte

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