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Freispruch im E-Scooter-Fall

Das Landgericht Hildesheim subsumiert in seinem Urteil einen Sachverhalt gründlich unter die strafrechtlichen Bestimmungen und kommt in der Berufungsinstanz zum Freispruch des Angeklagten:

"Wer einen unversicherten E-Scooter ohne Fahrerlaubnis im öffentlichen Straßenverkehr wie einen einfachen Tretroller mit bloßer Muskelkraft fortbewegt, verhält sich selbst dann, wenn er zuvor Drogen konsumiert hat, weder strafbar noch ordnungswidrig, falls der Fahrer keine Ausfallerscheinungen zeigt."

- Urteil vom 20.09.2022 - 13 Ns 40 Js 25077/21 -


Die erste Instanz

Das Amtsgericht hatte den Angeklagten wegen vorsätzlichen Gebrauchs eines Fahrzeugs auf öffentlichen Wegen ohne erforderlichen Haftpflichtversicherungsschutz zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, ihn allerdings vom Vorwurf des Fahrens ohne Fahrerlaubnis freigesprochen.


Die zweite Instanz

Gegen dieses Urteil hatten sowohl die Staatsanwaltschaft als auch der Angeklagte Berufung eingelegt. Ziel der Berufung der Staatsanwaltschaft war eine weitere Verurteilung des Angeklagten auch wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis. Ziel des Rechtsmittels des Angeklagten war ein Freispruch insgesamt.

Erfolg konnte jedoch nur die Berufung des Angeklagten haben, die schlussendlich zum Freispruch führte (Urteil vom 20.09.2022 - 13 Ns 40 Js 25077/21).

Dem Angeklagten war zur Last gelegt worden, er habe mit einem E-Scooter öffentliche Straßen unter dem Einfluss von Marihuana befahren, obwohl er wusste, dass er die zum Führen des Fahrzeugs benötigte Erlaubnis der Verwaltungsbehörde nicht hatte und das Fahrzeug auch nicht haftpflichtversichert war.


Die Begründung

Das Benutzen des E-Scooters als einfachen Tretroller (ohne Einsatz seines - hier defekten - Elektromotors, also wie einen Tretroller mit bloßer Muskelkraft angetrieben) erfüllt laut dem Berufungsgericht keinen Straftatbestand und auch nicht den einer Verkehrsordnungswidrigkeit, und zwar weder unter dem Gesichtspunkt eines Vergehens nach dem Pflichtversicherungsgesetz (1.) noch unter dem Gesichtspunkt eines Fahrens ohne Fahrerlaubnis (2.) und auch nicht unter dem Gesichtspunkt des Fahrens unter Drogeneinfluss (3.)


ad (1.)

§ 6 PflVG setzt ein „Gebrauchen“ des Kraftfahrzeugs voraus. Gebrauchen bedeutet die bestimmungsgemäße Benutzung des Kraftfahrzeugs zum Zweck der Fortbewegung. Rechtsprechung dazu, ob das Fortbewegen eines E-Scooters mit bloßer Tretkraft ein Gebrauchen i. S. von § 6 PflVG darstellt, ist bislang nicht veröffentlicht. Es gilt der Grundsatz, dass die von Kraftfahrzeugen ausgehende typische Verkehrsgefahr in der Regel fehlt, wenn ein Kraftfahrzeug durch betriebsfremde Kräfte - beispielsweise durch bloßes Schieben, Ziehen oder durch die eigene Körperkraft - im Verkehr bewegt wird. Bei der Anwendung dieses Grundsatzes auf den vorliegenden Fall ergibt sich, dass die typische Gefahr eines E-Scooters darin besteht, dass er viel höhere, gleichbleibende Geschwindigkeiten erzielt als ein einfacher Tretroller und dass der Fahrer dabei zudem anders als beim Tretroller keinen regelmäßigen Bodenkontakt und damit auch weniger körperliche Kontrolle über das Fahrzeug hat. Wird ein E-Scooter hingegen mit bloßer Muskelkraft benutzt, verhält er sich nicht anders als ein für Erwachsene ausgelegter Tretroller. Damit lag zur Überzeugung der Kammer kein Gebrauchen i. S. von § 6 PflVG vor, wenn ein E-Scooter wie ein einfacher Tretroller mit bloßer Muskelkraft gefahren wird.


ad (2.)

Gem. § 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG macht sich strafbar, wer ohne die erforderliche Fahrerlaubnis „ein Kraftfahrzeug führt“.


Die Rechtsprechung des BGH

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist Führer eines Kraftfahrzeugs, wer es unter bestimmungsgemäßer Anwendung seiner Antriebskräfte unter eigener Allein- oder Mitverantwortung in Bewegung setzt oder unter Handhabung seiner technischen Vorrichtungen während der Fahrtbewegung durch den öffentlichen Verkehrsraum ganz oder wenigstens zum Teil lenkt“. Nach dieser Definition ist für die Benutzung eines E-Scooters als bloßen Tretroller § 21 StVG erst recht nicht einschlägig.


ad (3.)

Auch für den Umstand, dass die dem Angeklagten eine Dreiviertelstunde nach der Verkehrskontrolle abgenommene Blutprobe Wirkstoffkonzentrationen aufwies, die den analytischen Grenzwertes für THC von 1 ng/ml insgesamt über 90(!)-fach überschreiten, kann er letztlich nicht belangt werden, weil Voraussetzung für eine Ordnungswidrigkeit nach § 24a Abs. 2 StVG ebenfalls das Führen eines Kraftfahrzeugs wäre (siehe oben 2.) und der Straftatbestand des § 316 StGB („Trunkenheit im Verkehr“) zwar nur das Führen eines „Fahrzeugs“ verlangt, es für Fahruntüchtigkeit infolge von Drogenkonsum jedoch keine Wirkstoffgrenzen für „absolute“ Fahruntüchtigkeit gibt, vielmehr die Feststellung der Fahruntüchtigkeit anhand einer umfassenden Würdigung der Beweisanzeichen im Einzelfall erforderlich ist (z.B. Schlangenlinienfahren). Solche Beweisanzeichen für eine Fahruntüchtigkeit des Angeklagten lagen nicht vor. Die ihn kontrollierenden Polizeibeamten XX haben weder Fahrfehler noch sonstige Ausfallerscheinungen am Angeklagten beobachtet.



Bickenbach, den 30.12.2022

Mitgeteilt von
RA Stefan Krump
Dingeldein • Rechtsanwälte

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